Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Friedrich Schiller an den Herzog Friedrich Christian von Augustenburg

Jena, den 13 Juli [Sonnabend] 1793.

Durchlauchtigster Prinz! 

Wie sehr haben Sie mich durch die gnädige Aufnahme meiner Bitte geehrt, Ihnen die Resultate meiner Untersuchungen über das Schöne in einer Reihe von Briefen vorlegen zu dürfen. Könnte das Vergnügen, das dieser unschätzbare Beweis Ihrer Wohlgewogenheit mir gewährt, noch durch etwas erhöhet werden, so würde es durch die Erklärung geschehen seyn, womit Sie die mir gegebene Erlaubniß begleiteten. Sie erlassen mir, Gnädigster Prinz, die Fesseln eines dogmatischen Vortrags, und machen mir eben das zur Pflicht, was ich mir als eine Gunst von Ihnen hatte erbitten wollen. Die Freiheit des Vortrags, welche Ew. Durchlaucht verlangen, ist nicht Zwang, sondern Bedürfniß für mich, und großmüthig lassen Sie mir den Schein eines Verdienstes, wo ich nicht einmal eine Wahl habe. Viel zu wenig bekannt mit dem Gebrauche schulgerechter Formen, um durch Mißbrauch derselben mich zu versündigen, werde ich vor der Gefahr wenigstens sicher seyn, Ihre Geduld methodisch zu ermüden. Meine Philosophie wird ihren Ursprung nicht verläugnen, und, wenn sie je verunglücken sollte, eher in den Untiefen und in den Strudeln der poetisirenden Einbildungskraft untersinken, als an den kahlen Sandbänken trockner Abstraktionen scheitern. Eine Frucht meines eigenen Nachdenkens, und aus meinem beschränkten Erfahrungskreise geschöpft, wird sie sich vielmehr jedes andern Fehlers, als der Sektiererey schuldig machen, und eher aus eigener Gebrechlichkeit fallen, als durch Autorität und fremde Hülfe sich aufrecht erhalten. Auch da, wo ich mich an die kritische Philosophie anschließen werde, (und ich läugne nicht, daß dieß sehr oft geschehen dürfte) hoffe ich, die Freiheit Ihres Geistes zu respektieren, und Ihrer selbstrichtenden Vernunft eine freiwillige Beystimmung abzugewinnen. 

Manchen Kantischen Sätzen giebt die strenge Reinheit und die scholastische Form, in der sie aufgestellt werden, eine Härte und eine Sonderbarkeit, die ihrem Inhalte fremd ist, und von dieser Hülle entkleidet, erscheinen sie dann als die verjährten Ansprüche der allgemeinen Vernunft. Philosophische Wahrheiten, habe ich oft bemerkt, müssen in einer andern Form gefunden, und in einer andern angewandt und verbreitet werden. Die Schönheit eines Gebäudes wird nicht eher sichtbar, als bis man das Geräthe des Maurers und Zimmermanns hinwegnimmt und das Gerüste abbricht, hinter welchem es emporstieg. Aber die mehrsten Schüler Kants ließen sich eher den Geist, als die Maschinerie seines Systems entreißen, und legen eben dadurch an den Tag, daß sie mehr dem Arbeiter als dem Baumeister gleichen. 

Ich kann Ihnen nicht genug sagen, Vortrefflichster Prinz, wie angenehm mich Ihr Geständniß überraschte, daß Sie von der Unduldsamkeit unserer philosophischen Weltverbesserer schlecht erbaut seyen, und daß Sie diese Besorgniß auch auf mich zu erstrecken scheinen, vermehrt, wenn es möglich ist, meine Ehrfurcht vor Ihrem Geiste, und erhöht mein Vertrauen, da gerade dies der einzige Fehler ist, von dem ich frey zu bleiben hoffe. Ihre liberale Art zu denken verschafft mir die glückliche Freiheit, unabhängig von jedem System bloß meiner eigenen Ueberzeugung zu folgen. Das Reich der Vernunft ist ein Reich der Freiheit, und keine Knechtschaft ist schimpflicher, als die man auf diesem heiligen Boden erduldet. Aber viele, die sich ohne innere Befugniß darauf niederlassen, beweisen, daß sie nicht frey geboren, blos frey gelassen sind. 

Sollte ich indessen, bey noch so lebhafter Abneigung gegen Systemsucht, doch zuweilen Ihre Befürchtungen wahr machen, Gnädigster Prinz, und in den unfruchtbaren Steppen der Speculation mich verlieren, so werden Sie die Grazien mir zu Hülfe schicken, und den Verirrten auf den rechten Weg zurückrufen. Ich erbitte es mir von Ihrer Gnade, schenken Sie mir nichts, verzeihen Sie mir nichts. Dulden Sie nicht, daß ich die Sache der Schönheit mit Waffen verfechte, die der Schönheit nicht würdig sind, daß ich die Vorschriften des Geschmacks in demselben Moment verletze, wo ich den Beweis für ihre Gültigkeit führe.

Aber sollte ich von der Freiheit, die mir von Ew. Durchlaucht verstattet wird, nicht vielleicht einen bessern Gebrauch machen können, als Ihnen meine Ideen von Schönheit und schöner Kunst vorzulegen? Ist es nicht außer der Zeit, sich um die Bedürfnisse der ästhetischen Welt zu bekümmern, wo die Angelegenheiten der politischen ein so viel näheres Interesse darbieten? 

Ich liebe die Kunst und was mit ihr zusammenhängt über alles, und meine Neigung, ich bekenne es, giebt ihr vor jeder andern Beschäftigung des Geistes den Vorzug. Aber es kömmt hier nicht darauf an, was die Kunst mir ist, sondern wie sie sich gegen den menschlichen Geist überhaupt, und insbesondere gegen die Zeit verhält, in der ich mich zu ihrem Sachwalter aufwerfe. 

Ich möchte nicht gerne in einem andern Jahrhundert leben, und für ein anderes wirken. Man ist ebenso gut Zeitbürger, als man Weltbürger, Staatsbürger, Hausvater ist. Wenn es unschicklich und unerlaubt gefunden wird, sich von den Sitten und Gebräuchen des Volks, bei dem man sich aufhält, und des Zirkels, worin man lebt, loszusprechen; warum sollte es weniger Pflicht seyn, sich in der Wahl seiner Thätigkeit nach dem Geschmack und dem Bedürfniß des Zeitalters zu richten? 

Was an sich gut ist, möchte man vielleicht sagen, ist zu jeder Zeit gut, und das ist jede Untersuchung der Wahrheit. Aber es giebt viele Wahrheiten, die zu untersuchen sind, und bey der Wahl, die man darunter anstellt, gebührt, meiner Meinung nach, dem Zeitbedürfniß und dem Zeitgeschmack eine entscheidende Stimme. 

Nun scheint aber diese Stimme keineswegs zum Vortheil der schönen Kunst auszufallen. Der Lauf der Begebenheiten im Politischen, und der Gang des menschlichen Geistes im Litterarischen hat dem Genius der Zeit eine solche Richtung gegeben, die ihn je mehr und mehr von der idealisirenden Kunst entfernt. Diese muß die Wirklichkeit verlassen, und sich mit einer gewissen Kühnheit über das Bedürfniß der Gegenwart erheben, denn die Kunst ist eine Tochter der Freiheit. Jetzt aber herrscht das Bedürfniß, und der Drang der physischen Lage, die Abhängigkeit des Menschen von tausend Verhältnissen, die ihm Fesseln anlegen, und ihn je mehr und mehr mit der unidealischen Wirklichkeit verstricken, hemmt freien Aufflug in die Regionen des Idealischen. Selbst die speculirende Vernunft entreißt der Einbildungskraft eine Provinz nach der andern, und die Grenzen der Kunst verengen sich, je mehr die Wissenschaft die ihrigen erweitert. 

Besonders aber ist es jetzt das politische Schöpfungswerk, was beynahe alle Geister beschäftigt. Die Ereignisse in diesem letzten decennium des achtzehnten Jahrhunderts sind für die Philosophen nicht weniger auffordernd und wichtig, als sie es sonst nur für den mithandelnden Weltmann sind, und Ew. Durchlaucht könnten also mit doppeltem Rechte erwarten, daß ich diesen merkwürdigen Stoff zum Gegenstand der schriftlichen Unterhaltung machte, die Sie mir mit so viel Großmuth und Güte zugestanden haben. 

Ein Gesetz des weisen Solon verdammt den Bürger, der bey einem Aufstande keine Parthey nimmt. Wenn es je einen Fall gegeben hat, auf den dieses Gesetz könnte angewandt werden, so scheint es der gegenwärtige zu seyn, wo das große Schicksal der Menschheit zur Frage gebracht ist, und wo man also, wie es scheint, nicht neutral bleiben kann, ohne sich der strafbarsten Gleichgültigkeit gegen das, was dem Menschen das Heiligste seyn muß, schuldig zu machen. Eine geistreiche, muthvolle, lange Zeit als Muster betrachtete Nation hat angefangen, ihren positiven Gesellschaftszustand gewaltsam zu verlassen und sich in den Naturstand zurück zu versetzen, für den die Vernunft die alleinige und absolute Gesetzgeberin ist. So sehr dieser große Rechtshandel, seines Inhalts und seiner Folgen wegen, jeden, der sich Mensch nennt, interessieren muß, so sehr muß er, seiner Verhandlungsart wegen, jeden Selbstdenker insbesondere interessieren. Eine Angelegenheit, über welche sonst nur das Recht des Stärkeren und die Convenienz zu entscheiden hätte, ist vor dem Richterstuhl reiner Vernunft anhängig gemacht, und maßt sich wenigstens an, als ob sie nach Principien abgeurtheilt seyn wollte. Jeder selbstdenkende Mensch aber darf sich (so weit er fähig ist, seien eigenthümliche Vorstellungsart zu generalisieren, sein Individuum zur Gattung zu erweitern), als einen Beysitzer jenes Vernunftgerichts ansehen, so wie er, als Mensch und Weltbürger zugleich Parthey ist, und in den Erfolg sich verflochten sieht. Es ist nicht nur seine eigene Sache, welche bey diesem großen Rechtshandel zur Entscheidung kommt, sondern es wird auch nach Gesetzen gesprochen, die er als mitbestellter Repräsentant der Vernunft zu diktiren berechtigt und aufrecht zu erhalten verpflichtet ist.

Was könnte also wohl, Vortrefflicher Prinz, anziehender und interessanter für mich seyn, als mich in das Innere dieses großen Gegenstandes mit einem ebenso geistreichen Denker als humanen Weltbürger einzulassen, der mit schönem Enthusiasmus das große Ganze der Menschheit umreicht, dessen heller und vorurtheilsfreier Sinn die Vernunft rein und unverstellt wiederstrahlt? Eine Unterhaltung dieses Innhalts würde einen um so größeren Reiz für mich haben, je mehr der Standort, aus welchem ich, der Privatmann, die politische Welt betrachte, von demjenigen verschieden ist, aus welchem Sie, der Fürst und mithandelnde Staatsmann, in die Fluth der Ereignisse niederschauen. Was kann aber entzückender seyn, als einander in der Denkart zu begegnen, wo die äußern Verhältnisse die weiteste Entfernung bewirken, und aus einem noch so unermeßlichen Abstand in der wirklichen Welt doch in demselben Mittelpunkt der Ideenwelt zu convergieren? 

Daß ich dieser reizenden Versuchung widerstehe, und zu der schriftlichen Unterhaltung, die Ew. Durchlaucht mir verstatten wollen, eine Materie in Vorschlag bringe, die von dem Lieblingsgespräch des Zeitalters so sehr entlegen ist, geschieht nicht aus überwiegender Neigung für diesen Gegenstand, obgleich ich mich einer solchen Neigung nie schämen werde; nicht meine Vorliebe für die Kunst, sondern ein Grundsatz bestimmte meine Wahl, und ich glaube, sie rechtfertigen zu können. Wenn ich also gleich in der Behandlung meines Gegenstandes höchstens auf Ihre Nachsicht Anspruch machen kann, so möchte ich über die Wahl desselben gern Ihren Beyfall haben. 

Wäre das Faktum wahr, – wäre der außerordentliche Fall wirklich eingetreten, daß die politische Gesetzgebung der Vernunft übertragen, der Mensch als Selbstzweck respektiert und behandelt, das Gesetz auf den Thron erhoben, und wahre Freiheit zur Grundlage des Staatsgebäudes gemacht worden, so wollte ich auf ewig von den Musen Abschied nehmen, und dem herrlichsten aller Kunstwerke, der Monarchie der Vernunft, alle meine Thätigkeit widmen. Aber dieses Faktum ist es eben, was ich zu bezweifeln wage. Ja, ich bin soweit entfernt, an den Anfang einer Regeneration im Politischen zu glauben, daß mir die Ereignisse der Zeit vielmehr alle Hoffnungen dazu auf Jahrhunderte benehmen. 

Ehe diese Ereignisse eintraten, Gnädigster Prinz, konnte man sich allenfalls mit dem lieblichen Wahne schmeicheln, daß der unmerkliche aber ununterbrochene Einfluß denkender Köpfe, die seit Jahrhunderten ausgestreuten Keime der Wahrheit, der aufgehäufte Schatz von Erfahrung die Gemüther allmählich zum Empfang des Bessern gestimmt und so eine Epoche vorbereitet haben müßten, wo die Philosophie den moralischen Weltbau übernehmen, und das Licht über die Finsterniß siegen könnte. So weit war man in der theoretischen Kultur vorgedrungen, daß auch die ehrwürdigsten Säulen des Aberglaubens zu wanken anfingen, und der Thron tausendjähriger Vorurtheile schon erschüttert ward. Nichts schien mehr zu fehlen, als das Signal zur großen Veränderung und eine Vereinigung der Gemüther. Beides ist nun gegeben – aber wie ist es ausgeschlagen? 

Der Versuch des französischen Volks, sich in seine heiligen Menschenrechte einzusetzen, und eine politische Freiheit zu erringen, hat bloß das Unvermögen und die Unwürdigkeit desselben an den Tag gebracht, und nicht nur dieses unglückliche Volk, sondern mit ihm auch einen beträchtlichen Theil Europens, und ein ganzes Jahrhundert, in Barbarey und Knechtschaft zurückgeschleudert. Der Moment war der günstigste, aber er fand eine verderbte Generation, die ihn nicht werth war, und weder zu würdigen noch zu benutzen wußte. Der Gebrauch, den sie von diesem großen Geschenk des Zufalls macht und gemacht hat, beweist unwidersprechlich, daß das Menschengeschlecht der vormundschaftlichen Gewalt noch nicht entwachsen ist, daß das liberale Regiment der Vernunft da noch zu frühe kommt, wo man kaum damit fertig wird, sich der brutalen Gewalt der Thierheit zu erwehren, und daß derjenige noch nicht reif ist zur bürgerlichen Freiheit, dem noch so vieles zur menschlichen fehlt.

In seinen Thaten malt sich der Mensch – und was für ein Bild ist das, das sich im Spiegel der jetzigen Zeit uns darstellt? Hier die empörendste Verwilderung, dort das entgegengesetzte extrem der Erschlaffung: die zwey traurigsten Verirrungen, in die der Menschenkarakter versinken kann, in Einer Epoche vereint! 

In den niedern Klassen sehen wir nichts als rohe gesetzlose Triebe, die sich nach aufgehobenem Band der bürgerlichen Ordnung entfesseln, und mit unlenksamer Wuth ihrer thierischen Befriedigung zueilen. Es war also nicht der moralische Widerstand von innen, bloß die Zwangsgewalt von außen, was bisher ihren Ausbruch zurückhielt. Es waren also nicht freye Menschen, die der Staat unterdrückt hatte, nein, es waren bloß wilde Thiere, die er an heilsame Ketten legte. Hätte der Staat die Menschheit wirklich unterdrückt, wie man ihm Schuld giebt, so müßte man Menschheit sehen, nachdem er zertrümmert worden ist. Aber der Nachlaß der äußern Unterdrückung macht nur die innere sichtbar, und der wilde Despotismus der Triebe heckt alle jene Unthaten aus, die uns in gleichem Grad anekeln und schaudern machen. 

Auf der andern Seite geben uns die civilisierten Klassen den noch widrigeren Anblick der Erschlaffung, der Geistesschwäche, und einer Versunkenheit des Karakters, die um so empörender ist, je mehr die Kultur selbst daran Theil hat. Ich erinnere mich nicht mehr, welcher alte oder neue Philosoph die Bemerkung machte, daß das Edlere in seiner Verderbniß das Abscheulichere sey, aber die Erfahrung bestätigt sie auch hier. Wenn die Kultur ausartet, so geht sie in eine weit bösartigere Verderbniß über, als die Barbarey je erfahren kann. Der sinnliche Mensch kann nicht tiefer als zum Thier herabstürzen; fällt aber der aufgeklärte, so fällt er bis zum Teuflischen herab, und treibt ein ruchloses Spiel mit dem Heiligsten der Menschheit. 

Die Aufklärung, deren sich die höheren Stände unsers Zeitalters nicht mit Unrecht rühmen, ist bloß theoretische Kultur, und zeigt, im ganzen genommen, so wenig einen veredelnden Einfluß auf die Gesinnung, daß sie vielmehr bloß dazu hilft, die Verderbniß in ein System zu bringen, und unheilbarer zu machen. Ein raffinierter und consequenter Epikurism hat angefangen, alle Energie des Karakters zu ersticken, und die immer fester sich zuschnürende Fessel der Bedürfnisse, die vermehrte Abhängigkeit der Menschheit vom physischen hat es allmählich dahin geleitet, daß die Maxime der Passivität und des leidenden Gehorsams als höchste Lebensregel gilt. Daher die Beschränktheit im Denken, die Kraftlosigkeit im Handeln, die klägliche Mittelmäßigkeit im Hervorbringen, die unser Zeitalter zu seiner Schande karakterisiert. Und so sehen wir den Geist der Zeit zwischen Barbarey und Schlaffheit, Freygeisterey und Aberglauben, Rohheit und Verzärtelung schwanken, und es ist bloß das Gleichgewicht der Laster, was das Ganze noch zusammenhält. 

Und ist dieses nun die Menschheit, möchte ich fragen, für deren Rechte der Philosoph sich verwendet, die der edle Weltbürger in Gedanken hat, und an welcher ein neuerer Solon seine Ideen von einer Staatsverfassung realisieren möchte? Ich zweifle sehr. Nur seine Fähigkeit als ein sittliches Wesen zu handeln, giebt dem Menschen Anspruch auf Freiheit; ein Gemüth aber, das nur sinnlicher Bestimmungen fähig ist, ist der Freiheit so wenig werth, als empfänglich. Alle Reform, die Bestand haben soll, muß von der Denkungsart ausgehen, und wo eine Verderbniß in den Principien herrscht, da kann nichts gesundes, nichts gutartiges aufkeimen. Nur der Karakter der Bürger erschafft und erhält den Staat, und macht politische und bürgerliche Freiheit möglich. Denn wenn die Weisheit selbst in Person vom Olymp herabstiege, und die vollkommenste Verfassung einführte, so müßte sie ja doch Menschen die Ausführung übergeben. 

Wenn ich also, Gnädigster Prinz, über die gegenwärtigen politischen Bedürfnisse und Erwartungen meine Meinung sagen darf, so gestehe ich, daß ich jeden Versuch einer Staatsverbesserung aus Principien (denn jede andere ist bloßes Noth- und Flickwerk) so lange für unzeitig, und jede darauf gegründete Hoffnung so lange für schwärmerisch halte, bis der Karakter der Menschheit von seinem tiefen Verfall wieder emporgehoben worden ist – eine Arbeit für mehr als ein Jahrhundert. Man wird zwar unterdessen von manchem abgestellten Mißbrauch, von mancher glücklich versuchten Reform im Einzelnen, von manchem Sieg der Vernunft über das Vorurtheil hören, aber was hier zehn große Menschen aufbauten, werden dort funfzig Schwachköpfe wieder niederreißen. Man wird in andern Welttheilen den Negern die Ketten abnehmen, und in Europa den – Geistern anlegen. So lange aber der oberste Grundsatz der Staaten von einem empörenden Egoismus zeugt, und so lange die Tendenz der Staatsbürger nur auf das physische Wohlseyn beschränkt ist, so lange, fürchte ich, wird die politische Regeneration, die man so nahe glaubte, nichts als ein schöner philosophischer Traum bleiben. 

Soll man also aufhören, darnach zu streben? Soll man also aufhören, darnach zu streben? Soll man gerade die wichtigste aller menschlichen Angelegenheiten einer gesetzlosen Willkühr, einem blinden Zufall anheimstellen, während daß das Reich der Vernunft nach jeder andern Seite zusehends erweitert wird? Nichts weniger, Gnädigster Prinz. Politische und bürgerliche Freiheit bleibt immer und ewig das heiligste aller Güter, das würdigste Ziel aller Anstrengungen, und das große Centrum aller Kultur – aber man wird diesen herrlichen Bau nur auf dem festen Grund eines veredelten Karakters aufführen, man wird damit anfangen müssen, für die Verfassung Bürger zu erschaffen, ehe man den Bürgern eine Verfassung geben kann. 

Vielleicht dürften Sie mir einwenden, Durchl. Prinz, daß hier ein Zirkel sey, und daß der Karakter des Bürgers ebenso gut von der Verfassung abhänge, als diese auf dem Karakter des Bürgers ruht. Ich gebe dieses zu und behaupte also, daß man, um diesen Zirkel zu vermeiden, entweder auf Mittel denken muß dem Staat aufzuhelfen, ohne den Karakter dabey zu Hülfe zu nehmen, oder dem Karakter beyzukommen, ohne den Staat dabei nöthig zu haben. Das erste enthält einen Widerspruch, weil sich keine Verfassung erdenken läßt, die von der Gesinnung der Bürger unabhängig wäre. Vielleicht aber findet sich Rath zu dem zweyten, und es lassen sich zu Veredlung der Denkungsart Quellen eröffnen, die von dem Staat nicht abgeleitet sind und sich also bey allen Mängeln desselben rein und lauter erhalten. 

Auf den Karakter wird bekanntlich durch Berichtigung der Begriffe und durch Reinigung der Gefühle gewirkt. Jenes ist das Geschäft der philosophischen, dieses vorzugsweise der ästhetischen Kultur. Aufklärung der Begriffe kann es allein nicht ausrichten, denn von dem Kopf ist noch ein gar weiter Weg zu dem Herzen, und bei weitem der größere Theil der Menschen wird durch Empfindungen zum Handeln bestimmt. Aber das Herz allein ist ein ebenso unsicherer Führer, und die zarteste Empfindsamkeit wird nur ein desto leichterer Raub der Schwärmerey, wenn ein heller Verstand sie nicht leitet. Gesundheit des Kopfes wird also mit der Reinheit des Willens zusamentreffen müssen, wenn der Karakter vollendet heißen soll. 

Das dringendere Bedürfniß unsers Zeitalters scheint mir die Veredlung der Gefühle und die sittliche Reinigung des Willens zu seyn, denn für die Aufklärung des Verstandes ist schon sehr viel gethan worden. Es fehlt uns nicht sowohl an der Kenntniß der Wahrheit und des Rechts, als an der Wirksamkeit dieser Erkenntniß zu Bestimmung des Willens, nicht sowohl an Licht als an Wärme, nicht sowohl an philosophischer als an ästhetischer Kultur. Diese letztere halte ich für das wirksamste Instrument der Karakterbildung, und zugleich für dasjenige, welches von dem politischen Zustand vollkommen unabhängig, und also auch ohne Hülfe des Staats zu erhalten ist. 

Und hier ist es nun, Gnädigster Prinz, wo die Kunst und der Geschmack ihre bildende Hand an den Menschen legen, und ihren veredelten Einfluß beweisen. Die Künste des Schönen und Erhabenen beleben, üben und verfeinern das Empfindungsvermögen, sie erheben den Geist von den groben Vergnügungen des Stoffes zum reinen Wohlgefallen an bloßen Formen, und gewöhnen ihn, auch in seine Genüsse Selbstthätigkeit zu mischen. Die wahre Verfeinerung der Gefühle besteht aber jederzeit darin, daß der höhern Natur des Menschen und dem göttlichen Theil seines Wesens, seiner Vernunft und seiner Freiheit, ein Antheil daran verschafft wird. 

Wenn Sinnes Lust und Sinnes Schmerz, 
Vereinigt um des Menschen Herz 
Den tausendfachen Knoten schlingen, 
Und zu dem Staub ihn niederziehn, 
Wer ist sein Schutz? Wer rettet ihn? 
Die Künste, die an goldnen Ringen 
Ihn aufwärts zu der Freiheit ziehn, 
Und durch den Reiz veredelter Gestalten 
Ihn zwischen Erd und Himmel schwebend halten. 

Zwar ist nicht zu läugnen, daß auch die Kunst (die redende sowohl als die bildende) gerne an den Geist des Jahrhunderts sich anschmiegt. Wenn sich der beurtheilende Geschmack zum Gemeinen und Schlechten wendet, so nimmt auch der hervorbringende nicht selten eine ähnliche Richtung, denn der Künstler wird zum Theil doch durch seine Zeit gebildet und will seiner Zeit gefallen. Aber wenn es ihm gleich erlaubt ist, sich an den Geist des Jahrhunderts anzuschließen, so soll er doch seine Gesetze nicht von demselben empfangen. Die Gesetze der Kunst sind nicht in den wandelbaren Formen eines zufälligen und oft ganz entarteten Zeitgeschmacks, sondern in dem Nothwendigen und Ewigen der menschlichen Natur, in den Urgesetzen des Geistes, gegründet. Aus dem göttlichen Theil unsers Wesens, aus dem ewig reinen Aether idealischer Menschheit strömt der lautere Quell der Schönheit herab, unangesteckt von dem Geist des Zeitalters, der tief unter ihm in trüben Strudeln dahinwallt, Daher kann auch die Kunst, mitten unter einem barbarischen und unwürdigen Jahrhundert, rein wie eine Himmlische wandeln, sobald sie nur ihres hohen Ursprungs eingedenk bleibt, und sich nicht selbst zur Sklaverei niedrigerer Absichten und Bedürfnisse erniedrigt. So wandelt noch jetzt der griechische Geist in seinen wenigen Ueberresten durch die Nacht unsers nordischen Zeitalters, und sein elektrischer Schlag weckt manche verwandte Seele zum Gefühl ihrer Größe auf. 

Damit aber der Kunst nicht das Unglück begegne, zur Nachahmung des Zeitgeistes herunter zu sinken, den sie zu sich erheben soll, so muß sie Ideale haben, die ihr unaufhörlich das Bild des höchsten Schönen vorhalten, wie tief auch das Zeitalter sich entwürdigen mag, so muß sie durch ein eigenes Gesetzbuch sowohl vor dem Despotismus eines lokalen und einseitigen Geschmacks, als vor der Anarchie eines verwilderten (vor Barbarey) sicher gestellt werden. Ideale besitzt sie zum Theil schon in den unsterblichen Mustern, die der griechische und der ihm verwandte Genius einiger Neueren gebahr, und die, ewig unerreicht, jeden Wechsel des Modegeschmacks überdauern werden. Aber ein Gesetzbuch ist es, woran es ihr bisher gemangelt hat, und dieses ihr zu verschaffen, eins der schwersten Probleme, welche die philosophirende Vernunft sich aufgeben kann – denn was kann schwerer seyn, als die Wirkungen des Genies unter Principien zu bringen und die Freiheit mit Nothwendigkeit zu vereinigen.

Werde ich mir nun nicht zu viel schmeicheln, Durchl. Prinz, wenn ich hoffe, Sie überzeugt zu haben, daß eine Philosophie des Schönen von dem Bedürfniß des Zeitalters nicht so entlegen sey, als es scheinen möchte, und daß dieser Gegenstand selbst die Aufmerksamkeit des politischen Philosophen verdiene, weil jede gründliche Staatsverbesserung mit Veredlung des Karakters beginnen, dieser aber an dem Schönen und Erhabenen sich aufrichten muß? Aber vielleicht hat meine Vorliebe für schöne Wissenschaft und Kunst mich hingerissen, ihnen Wirkungen zuzutrauen, deren sie nicht fähig sind. Vielleicht hätte ich vor allem andern den Einfluß ästhetischer Kultur auf die sittliche außer Zweifel setzen sollen. Erlauben Sie mir also, gnädigster Prinz, daß ich die Ausführung dieses Beweises dem folgenden Brief aufbehalte, da der gegenwärtige seine Grenzen schon so weit überschritten hat. 

Möchte dieser erste Versuch, Materien von dieser ungeschmeidigen Natur in das leichte Gewand eines Briefs einzukleiden, Ew. Durchlaucht nicht abgeschreckt haben, Sich diese Unterhaltung noch fernerhin von mir gefallen zu lassen! Mit rascheren Schritten kann ich den angefangenen Weg jetzt verfolgen, nachdem ich damit fertig geworden bin, die Karte des Landes aufzunehmen, durch welche Ihre ermunternde Aufmerksamkeit mich begleiten will; und so lange mußte ich diesen ersten Brief zurückhalten. Jetzt bin ich vollkommen frey, und werde mich in vollem Maße der gnädigen Erlaubniß bedienen, womit Ew. Durchl. Mich erfreuet haben. 

Zugleich unterstehe ich mich, einen gedruckten Aufsatz von verwandtem Innhalte beyzulegen, in dem ich einige der Ideen angekündigt und niedergelegt habe, deren nähere Entwicklung mich nunmehr beschäftigen wird. 

Baggesen, der gegenwärtig noch hier ist, verschafft mir sehr angenehme Stunden, und die schönsten darunter sind immer diejenigen, wo er uns das Bild eines Prinzen zeichnet, der seinem Herzen der unerschöpflichste Gegenstand ist, und der stets einer der theuersten seyn und bleiben wird von dem Herzen desjenigen, der sich mit tiefster Devotion und Ehrfurcht nennt 

                                                          Eurer Hochfürstlichen Durchlaucht 
                                                          Unterthänigsten und verbundensten 

Friedrich Schiller.


Bemerkungen

1 Zu S. 327. Z. 4. Der Brief des Prinzen ist mir nicht bekannt.
2 Zu S. 337. Z. 30. Die Verse gehören wohl der ersten Fassung der Künstler an.
3 Zu S. 340. Z. 4. Der Aufsatz: Über Anmuth u. Würde.