Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Friedrich Schiller an Herzog Christian Friedrich von Augustenburg. 

Ludwigsburg in Schwaben, den 11. Nov. [Montag] 1793. 

Durchlauchtigster Prinz! 

In dem Zeitraum, der zwischen Absendung dieses und des vorhergehenden Briefes verflossen ist, habe ich mein Vaterland nach einer vieljährigen Verbannung aus demselben wiedergesehen, ich bin Vater eines Sohnes geworden und habe neue langwierige Anfälle meiner alten Krankheit ausgestanden. Dieser Zusammenfluß fröhlicher Zerstreuungen und trauriger Zufälle verzögerte die Vollendung und Absendung des Einschlusses, und ich verliere jetzt keinen Augenblick, den abgerissenen Faden wieder anzuknüpfen. Wie aufmunternd war mir die Versicherung ew. Durchl., daß dieser Briefwechsel Ihnen einige Unterhaltung verschafft, und daß Sie einen raschen Gang desselben nicht ungern sehen. Auch hoffe ich Ihnen durch die Folge zu beweisen, daß es nicht meine, sondern meines Schicksals Schuld ist, wenn ich bisher hinter Ihren Erwartungen und meinen eigenen Wüschen zurückgeblieben bin. 

Aber eine Verbindlichkeit auf meiner Seite darf auf der Ihrigen, Vortrefflichster Prinz, durchaus keine nach sich ziehen. Jeder Federzug von Ihrer Hand, womit Sie meine Briefe zu beantworten würdigen, wird mir ein kostbares Geschenk seyn; aber es zu erwarten werde ich mir nie erlauben. Es ist nichts, was ich gegen Menschen, die ich hochschätze und liebe, weniger verletzen möchte, als ihre Freiheit. Eine sehr schmeichelhafte Stelle Ihres Briefes, worin Ew. Durchl. Sich herablassen, mir einen Grund Ihrer verzögerten Antwort anzugeben, veranlaßt mich zu dieser Erklärung. 

Baggesen hat mir Ew. Durchl. gerade so geschildert, wie Graff in Dresden und jeder gute Bildnißmahler portraitiert. Er hat Ihnen keine fremde Züge geliehen, und dies allein nenne ich ein Gemählde schmeicheln; er hat blos die Ihrigen idealisiert, und der Zeichnung, die er mir von Ihnen machte, durch den Ausdruck seiner Empfindungen ein erhöhteres Kolorit gegeben. Einen Karakter verschönern und einen Karakter idealisieren sind mir aber zwey ganz verschiedene Dinge. Dieses letzte kann nur der vortreffliche Künstler; jenes ist der gewöhnliche Behelf des mittelmäßigen. Jeder individuelle Menschenkarakter ist wieder seine eigene Gattung, und die augenblicklichen Erscheinungsweisen sind nur verschiedene Arten dieser Gattung. Diese augenblicklichen Erscheinungsweisen sind zum Theil zufällig, weil äußere vorübergehende Umstände darauf Einfluß haben, und weil sie nicht vom Karakter allein ausgehen, so können sie auch kein treues Bild desselben seyn. Um dieses treue Bild zu erhalten, muß man das Innere und Bleibende, was ihnen zum Grund liegt, von dem Zufälligen abzusondern wissen, man muß die Gattung oder das Generische dieser Individualität aufsuchen, und das nenne ich ein Portrait idealisieren. Die Eigenthümlichkeit eines Karakters verliert bey dieser Operation nicht nur gar nichts, sondern sie kann nur auf diesem einzigen Wege gefunden werden; denn weil man nur das Zufällige und was von außen kommt, davon abgezogen hat, so muß das Innere und bleibende desto reiner zurückbleiben. Freilich wird ein, auf diese Art entworfenes Bild dem Original in keinem einzigen Momente vollkommen gleichen, aber es wird ihm im Ganzen desto treuer seyn.

Ein solches Bild hat mir Baggesen, vielleicht ohne es zu wissen oder zu wollen, von Ew. Durchl. entworfen, und die treffende Uebereinstimmung dieses Bilds mit allem dem, worin Ihr Geist und Herz sich mir offenbaren konnte, verbürgt mir die Aechtheit seiner Schilderung. Erlauben Sie mir also, mein Hochachtungswürdigster Prinz, daß ich Ihnen die Gerechtigkeit erzeige, die Sie Selbst Sich zu versagen scheinen.

Ich habe mich in einigen Stellen meines vorigen Briefes etwas unbestimmt ausgedrückt, und Eure Durchl. geben mir durch Ihre geistreiche Bemerkung Gelegenheit, meinen Fehler zu verbessern. Ich habe das Bedürfniß unserer Zeit auf die praktische Ausbildung eingeschränkt, und der theoretischen Kultur des Jahrhunderts ein günstigeres Zeugniß gegeben, als sie Ihnen, Gnädigster Prinz, bis jetzt zu verdienen scheint. Vielleicht kann ich durch eine bestimmtere Erklärung Ihren Zweifel auflösen. 

Es ist vollkommen wahr, wie Ew. Durchlaucht behaupten, daß der größere Theil des Uebels, welches wir dem laufenden Jahrhundert zum Vorwurf machen, in nicht genug berichtigten Begriffen und Vorurtheilen seinen Grund hat, und von einer Verfinsterung der Köpfe zeugt, die dem Zeitalter der Aufklärung sehr wenig Ehre bringt. Mangel an theoretischer Kultur ist daher allerdings eine der nächsten Ursachen der Verwilderung, an der unsre Zeitgenossen krank liegen – eine der nächsten Ursachen, aber die letzte nicht. Denn ich frage wieder: woher dieser Mangel theoretischer Kultur bey allen Riesenschritten der Philosophie, bey allem Licht, das eine gründlichere Kenntniß der Natur, ein tieferes Studium des Menschen und seiner Verhältnisse aufstreckte, bei allen Bemühungen denkender Köpfe, diese Kenntnisse zu verbreiten und allgemein zu machen? Das Magazin ist gefüllt und aller Welt geöffnet, aus dem der gemeinste Menschenverstand Licht und Wahrheit schöpfen kann – warum sind derer so wenige – welche daraus schöpfen? Das Zeitalter ist aufgeklärt, damit will ich sagen, die Kenntnisse sind wirklich gefunden und ausgestellt, welche unsre Begriffe berichtigen könnten. Eine gesündere Philosophie hat die Wahnbegriffe unterwühlt, worauf der Aberglaube seinen Schattenthron erbaut, – warum steht dieser Thron noch jetzt? Eine bessere Moral hat unsre Politik, unsre Legislation, unser Staatsrecht gemustert, und das Barbarische in unsern Gewohnheiten, das Mangelhafte in unsern Gesetzen, das Ungereimte in unsern Convenienzen und Sitten aufgedeckt – woran liegt es, daß wir nichts desto weniger noch Barbaren sind? 

Es muß also in den Gemüthern der Menschen etwas vorhanden seyn, was der Aufnahme der Wahrheit, auch wenn sie noch so hell strahlte, im Wege steht, und was sie hindert, sich in den Besitz des Bessern zu setzen, das ihnen zur Schau getragen wird. Die Alten haben es geahndet, und es liegt in dem vielbedeutenden Ausdruck versteckt: Sapere aude. 

Ermanne Dich, weise zu seyn. Kraft und Energie des Entschlusses gehört also dazu, die Hindernisse zu besiegen, welche theils die natürliche Trägheit des Geistes, theils die Feigheit des Herzens der Aufnahme der Wahrheit entgegensetzen. Nicht umsonst wird uns die Weisheitsgöttin in der Fabel als eine Kriegerinn vorgestellt, die in voller Rüstung aus Jupiters Haupte stieg. Denn schon die erste Verrichtung der Weisheit in den Köpfen ist kriegerisch. Schon in ihrer Geburt muß sie den schweren Kampf mit der Sinnlichkeit bestehen, als daß sie die Epoche der Mündigkeit nicht so weit als möglich zurücksetzen sollte. 

Der zahlreichere Theil der Menschen wird durch den harten Kampf mit dem physischen Bedürfniß viel zu sehr ermüdet und abgespannt, als daß er sich zu einem neuen und innern Kampf mit Wahnbegriffen und Vorurtheilen aufraffen sollte. Das ganze Maaß seiner Kraft erschöpft die Sorge für das Nothwendige, und hat er dieses mühsam errungen, so ist Ruhe und nicht neue Geistesarbeit sein Bedürfniß. Zufrieden, daß er selbst nur nicht denken darf, läßt er andre gern über seine Begriffe die Vormundschaft führen, und erspart sich durch eine blinde Resignation in fremde Weisheit die saure Nothwendigkeit der eigenen Prüfung. Geschieht es, daß in seinem Kopf und Herzen sich höhere Bedürfnisse regen, so ergreift er mit hungrigem Glauben die Formeln, welche der Staat und das Priesterthum für diesen Fall in Bereitschaft halten, und womit es ihnen von jeher gelungen ist, das erwachte Freiheitsgefühl ihrer Mündel abzufinden. 

Man wird daher immer finden, daß die gedrücktesten Völker auch die borniertesten sind; daher muß man das Aufklärungswerk bey einer Nation mit Verbesserung ihres physischen Zustandes beginnen. Erst muß der Geist vom Joch der Nothwendigkeit losgespannt werden, ehe man ihn zur Vernunftfreiheit führen kann. Und auch nur in diesem Sinn hat man Recht, die Sorge für das physische Wohl der Bürger als die erste Pflicht des Staats zu betrachten. Wäre das physische Wohl nicht die Bedingung, unter welcher allein der Mensch zur Mündigkeit seines Geistes erwachen kann; um seiner selbst willen würde es bey weitem nicht so viel Aufmerksamkeit und Achtung verdienen. Der Mensch ist noch sehr wenig, wenn er warm wohnt und sich satt gegessen hat, aber er muß warm wohnen und satt zu essen haben, wenn sich die bessere Natur in ihm regen soll. 

Diese unglückliche Menschenklasse, welche ihre besten Kräfte im Ringen mit der physischen Noth verzehrt, verdient indessen mehr unser Mitleid als unsre Verachtung, wenn sie nicht zum Licht der Vernunft erwacht. Aber diese Entschuldigung kommt denjenigen nicht zu statten, welche ein besseres Loos vom Joch der Nothwendigkeit entbindet, aber ihre eigene Wahl und Neigung zu Sclaven der Sinne macht. Was jenen der Zwang ihrer Lage verbietet, davon schreckt diese eine strafbare Weichlichkeit ab. Man muß sich ermannen zur Weisheit, und das mögen sie nicht. Der Entschluß zur Aufklärung ist ein Wagestück, welches Losreißung aus dem Schoße der Trägheit, Anspannung aller Geisteskräfte, Verleugnung vieler Vortheile und eine Beharrlichkeit des Muths erfordert, die dem verzärtelten Sohn der Lust viel zu schwer wird. Sie ziehen den Dämmerschein dunkler Begriffe, wobey man lebhaft empfindet, und die freiere Phantasie sich nach eigenem Belieben bequeme Gestalten bildet, dem Tageslicht deutlicher Erkenntnisse vor, die das beliebte Blendwerk ihrer Träume verjagen. Das unbestimmte ist ihnen gerade recht, weil sie dadurch überhoben werden, sich nach den Dingen zu richten, und sich einbilden können, der Natur das Gesetz vorzuschreiben. Sie fliehen die Aufklärung nicht blos um der Mühe willen, womit sie erworben werden muß; sie fürchten sie eben so sehr um der Resultate willen, zu denen sie führt. Sie sind bange, die Lieblingsideen aufgeben zu müssen, denen nur die Dunkelheit günstig ist, und mit ihren Wahnbegriffen zugleich die Grundsäulen einstürzen zu sehen, die das morsche Gebäude ihrer Glückseligkeit tragen. Wie viele Menschen giebt es, deren ganzes Lebensglück auf einem Vorurtheil ruhet, das bey dem ersten ernsthaften Angriff des Verstandes zusammenfallen muß! Wie viele giebt es, die ihren ganzen Werth in der Gesellschaft auf ihren Reichthum, auf ihre Ahnen, auf körperliche Vorzüge gründen! Wie viel andere, die mit zusammengerafften Gedächtnißschätzen, mit einem unschmackhaften Witze, mit einer Scheingröße des Talents prunken, und im Wahn einer Wichtigkeit glücklich sind, die keine Probe aushalten würde. Alle diese Menschen müßten die Aufklärung mit dem harten Opfer ihres beßten Reichthums erkaufen, sie müßten damit anfangen, alles zu verlieren, worauf sie stolz gewesen sind, ehe sie die Vortheile der bessern Erkenntniß schmeckten. Um aber einen, dem ersten Anschiene nach so mißlichen Tausch zu treffen, müssen sie eine Verläugnungsgabe, eine Stärke des Geistes, eine Energie des Entschlusses besitzen, die man aus den Armen der Ueppigkeit selten mitzubringen pflegt. Sie müßten sich Herz fassen zur Weisheit, weil es in der That Herzhaftigkeit erfordert, seine gegenwärtigen Besitzungen für Güter der Erwartung aufzugeben. 

Diese Männlichkeit des Geistes ist der Gegenstand praktischer Kultur, und in so fern also Energie des Entschlusses nöthig ist, um aus dem Zustand verworrener Begriffe zu deutlichen Erkenntnissen überzugehen, muß der Weg zu der theoretischen Kultur durch die praktische geöffnet werden. Aus diesem Grunde, Gnädigster Prinz, hielt sich mich für berechtigt, die letztere für das dringendere Bedürfniß unsrer Zeit zu erklären, weil alle Erfahrungen mich überzeugen, daß nicht sowohl objektive Hindernisse (Unzulänglichkeit der Wissenschaft) als vielmehr subjektive Hindernisse (Fehler des Willens) sich der Aufklärung entgegensetzen, und daß es bloß an der Schlaffheit des Geistes liegt, wenn wir jetzt noch das Joch der Vorurtheile tragen. 

Indem ich behaupte, daß die Kultur des Geschmacks diesem Uebel abhelfe, und das wirksamste Mittel sey, die Gebrechen des Zeitalters zu verbessern, so bin ich weit entfernt, sie für das Einzige zu halten, und den großen Antheil zu übersehen, den eine gründliche Forschung der Natur und eine pragmatische Philosophie an der Bildung des Menschengeschlechts haben. Nur, ist meine Meinung, werden sich Philosophie und Erfahrung so lange umsonst vereinigen, den Menschen über das Wesen der Dinge und über seine Pflichten aufzuklären, als die subjektiven Hindernisse nicht hinweggeräumt worden, welche seinen Sinn vor der Kenntniß der Wahrheit verschließen, und, wenn diese auch wirklich den Zugang zu ihm gefunden, ihm das Vermögen rauben, sich seiner bessern Einsicht gemäß zu betragen. Diese schlimme Disposition zu verbessern, ist meiner Meinung nach das Werk der ästhetischen Kultur, welche also der wissenschaftlichen beständig zur Seite gehen muß. Der Geschmack allein vermehrt unser Wissen nicht, berichtigt unsre Begriffe nicht, lehrt uns nichts über die Objekte. Die Wissenschaft allein reicht ebenso wenig hin, unsre Grundsätze nach unserm bessern Wissen umzuformen, und unsre Kenntnisse zu praktischen Maximen zu erheben. Sie giebt uns nur die Materialien zur Weisheit; jener hingegen gewinnt unser Herz dafür, und verwandelt sie in unser Eigenthum. 

Nach dieser vorläufigen Erklärung, Gnädigster Prinz, glaube ich Sie auf die Fortsetzung der angefangenen Betrachtungen verweisen zu dürfen, welche in dem Einschluß enthalten ist. nichts kann zugleich schmeichelhafter und belehrender für mich seyn als Ihre Zweifel; sie überzeugen mich, daß Sie meine Ideen eines prüfenden Auges würdigen, und verschaffen mir Gelegenheit, das Mangelhafte derselben zu ergänzen.

Mit den lebhaftesten Empfindungen der Ehrfurcht, Dankbarkeit und Liebe ersterbe ich 

Eurer Hochfürstlichen Durchlaucht verpflichtetster

F. Schiller 

[Einschluß.] 

Durchlauchtigster Prinz! 

In meinem vorigen Briefe habe ich die beiden Extreme, Verwilderung und Erschlaffung, als die herrschenden Gebrechen des gegenwärtigen Zeitalters angegeben, und die Kultur des Geschmacks als das wirksamste Mittel vorgestellt, diesem doppelten Uebel zu begegnen. Wie ein kultivierter Geschmack diese Wirkung leisten kann, das ist es, Gnädigster Prinz, wovon der gegenwärtige Brief Sie unterhalten wird; und ich beantworte diese Frage um so lieber, weil sie mir Gelegenheit giebt, ein Mißverständniß zu berichtigen, das nicht selten auch das Urtheil philosophischer Köpfe über diesen Gegenstand irre leitet. 

Es ist schon so oft wiederhohlt worden, daß ein verfeinertes Gefühl des Schönen Karakter und Sitten veredle, daß es vielleicht überflüssig scheint, diese Materie einer neuen Untersuchung zu unterwerfen. Man beruft sich auf das Beyspiel der gesittetsten aller Nationen des Alterthums, die der Schönheit bekanntlich auch am meisten gehuldigt hat, und auf das entgegengesetzte Beyspiel jener barbarischen Völker alter und neuer Zeit, die ihre Vernachlässigung des Geschmacks durch eine traurige Verwilderung büßen. Aber so sehr auch diese Erfahrungen zum Vortheil der schönen Künste zu sprechen scheinen, so fällt es dennoch zuweilen denkenden Köpfen ein, entweder das Faktum zu läugnen, oder die Rechtmäßigkeit der Schlußfolge anzugreifen. Sie denken nicht ganz so schlimm von jener Verwilderung, die man den ungebildeten Völkern zum Vorwurf macht, und nicht ganz so günstig von jener Verfeinerung, die man an den gebildeten preiset. Ja, sie gehen so weit, zu behaupten, daß der Gewinn das Opfer nicht werth sey. Schon im Alterthum gab es Männer, die die schöne Kultur für nichts weniger als eine Wohlthat hielten, und deswegen sehr geneigt waren, den Künsten des Geschmacks den Eintritt in ihre Republik zu verweigern. 

Und in der That wird man kaum einen einzigen Fall in der Geschichte aufweisen können, wo ästhetische Kultur mit bürgerlicher Tugend und politischer Freiheit Hand in Hand gegangen wäre. So lange Griechenland seine Unabhängigkeit behauptete und unter seinen Bürgern Mitiade, Aristiden und Epaminondasse zählte, waren Geschmack und Kunst noch in ihrer Kindheit; als unter Perikles und Alexandern das goldene Alter der Künste erschien, war es vorbey mit Griechenlands Tugend und Freiheit. Die Römer, wissen wir, mußten sich erst unter das Joch der Julischen Familie beugen, ehe sie die griechische Kunst adoptierten und den sanften Einfluß der Grazien und Musen empfanden. Auch den Arabern ging die Morgenröthe der Kultur nicht eher auf, als bis die Energie ihres kriegerischen Geistes unter der unumschränkten Herrschaft der Abbassiden erschlafft war. In dem neueren Italien erschien bekanntlich die schöne Kunst nicht eher, als nachdem der republikanische Geist unterdrückt war, und der herrliche Lombardische Bund sich aufgelöst hatte. Ich darf Ew. Durchl. nicht erst an das Beyspiel Frankreichs erinnern, das die Epoche seiner Verfeinerung von der Epoche seiner völligen Unterjochung datiert, und in der Person seines vierzehnten Ludwigs zugleich den Wiederhersteller des Geschmacks verehrt und den fruchtbarsten Unterdrücker seiner Freiheit verabscheut. Wo wir nur hinsehen in der Geschichte finden wir, daß Geschmack und Freiheit einander fliehen, und die Kunst nur auf dem Grabe des Heroismus sich ihren Thron aufrichtet. 

Und doch ist gerade diese Energie des Karakters, womit gewöhnlich die ästhetische Verfeinerung erkauft wird, die wirksamste Feder alles Großen und Trefflichen im Menschen, die kein anderer noch so großer Vorzug ersetzen kann. Wenn es also wirklich an dem wäre, daß die Kultur des Geschmacks nothwendig damit erkauft werden müßte, so hätte man in der That großes Unrecht, die ästhetische Kultur als das Werkzeug zu betrachten, wodurch die sittliche befördert wird. Auf diesen erschlaffenden Einfluß des Schönen berufen sich gewöhnlich auch die Verächter desselben, um die Künste des Geschmacks als die schlimmsten Feinde der Menschheit zu verschreyen, und diese Beschuldigung wird nur allzuoft durch den Geist der Frivolität, Oberflächlichkeit, Willkührlichkeit und Spielerey gerechtfertigt, der die Liebhaber des Schönen sowohl im Denken als Handeln zu karakterisieren pflegt. Die schöne Welt im Gegentheil setzt den wohlthätigen Einfluß der Schönheitsgefühle vorzugsweise in diese ihre schmelzende Kraft, 

(Scilicet ingenium placida mollitur ab arte 

und an einem andern Ort: 

– Didicisse fideliter artes 
Emollit mores nec sinit esse feros.) 

und zum Beweis davon läßt sie uns den barbarischen Geschmack und die Rohigkeit bemerken, wodurch sich die Grazien an ihren Feinden zu rächen pflegen. Vielleicht haben beide Theile nicht so ganz Unrecht, und es ist der Mühe nicht unwerth, den Grund eines Streits aufzudecken, der zwey gleich achtungswürdige Partheyen, die Gelehrte und die Schöne Welt, schon so lange verhindert hat, einander Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. 

Der Grund dieses Widerspruchs liegt augenscheinlich in der gemischten Natur des Menschen, und in dem doppelten Bedürfniß, das daraus herfließt. Beide Partheyen streiten blos deswegen, weil jede ein anderes Bedürfniß der Menschheit vor Augen hat, und sie haben blos darin Unrecht, daß jede ausschließend nur auf ein einziges Bedürfniß achtet. Der ganze Widerspruch löst sich auf, sobald wir seine Quelle entdeckt haben werden. 

Der Mensch, als sinnliches Wesen, wird durch Triebe geleitet, die ohne Aufhören geschäftig sind, seine rationale Freiheit zu unterdrücken, d. i. ihn des Vermögens zu berauben, sich nach Grundsätzen zu bestimmen. Diese blinde Macht der Natur in ihm, diese blos sinnliche Energie darf nicht nur, sondern muß gebrochen werden, und eine Erschlaffung in diesem Sinn ist ein nothwendiger großer Schritt zur Kultur. Der erschlaffende Einfluß des Schönen ist also unstreitig eine Wohlthat, insofern er sich nur an der Sinnlichkeit äußert; und die Verfechter des Schönen haben vollkommen Recht, so lange sie nur den rohen Naturmenschen oder die rohe Natur in dem kultivierten vor Augen haben.

Aber diese Erschlaffung der Sinnlichkeit, welche das Schöne bewirken soll, und die Würde des Menschen erheischt, darf nicht von sinnlichem Kraftmangel und Erschöpfung herrühren, sondern die Selbstthätigkeit des Geistes muß ihre Quelle seyn, und die Freiheit der Vernunft muß der Macht der Naturtriebe Grenzen setzen. Diese Schmelzung und Erschlaffung, welche der Dichter meint, ist keine Wirkung der Schwäche, welche nur Verachtung verdiente; sie ist die Wirkung einer höhern und geistigen Thätigkeit, sie ist eine Handlung des Geistes. Nur an den Geist darf der Sinn verlieren. 

Die erschlaffende Wirkung des Schönen hört also auf, wohlthätig zu seyn, und wird verderblich, sobald sie sich in der Geistigkeit äußert, und die Verächter desselben haben also vollkommen Recht, ihm aus dieser Eigenschaft einen Vorwurf zu machen, sobald sie dieselbe auf den rationalen Menschen anwenden. 

Der sinnliche Mensch kann nicht genug aufgelöst, der rationale nicht genug abgespannt werden, und alles, was zur Kultur der Menschlichkeit gethan werden kann, läuft auf diese Regel hinaus: „die sinnliche Energie durch die geistige zu beschränken.“ 

Wenn also die ästhetische Bildung diesem doppelten Bedürfniß begegnet, wenn sie auf der einen Seite die rohe Gewalt der Natur entwaffnet und die Thierheit erschlafft, wenn sie auf der andern die selbstthätige Vernunftkraft weckt und den Geist wehrhaft macht, so (und auch nur so) ist sie geschickt, ein Werkzeug zur sittlichen Bildung abzugeben. Diese doppelte Wirkung ist es, die ich von der schönen Kultur unnachlaßlich fodre, und wozu sie auch im Schönen und Erhabenen die nöthigen Werkzeuge findet. 

Vermittelst des Schönen arbeitet sie der Verwilderung, vermittelst des Erhabenen der Erschlaffung entgegen, und nur das genaueste Gleichgewicht beider Empfindungsarten vollendet den Geschmack. Die bloße Empfänglichkeit für das Erhabene reicht bey weitem nicht hin, den Menschen aus dem Stand der Wildheit zu reißen, und ebenso wenig kann eine einseitige Richtung des Geschmacks zu dem Schönen ihn vor Weichlichkeit schützen. Vielmehr lehrt die Erfahrung, daß die erhabene Anspannung des Gemüths, wo keine Schönheitsgefühle sie mildern, eine gewisse Härte, ja oft sogar Rohheit begünstigt, und daß im Gegentheil die Hinschmelzung des Gefühls bei dem Schönen, wo das Erhabene nicht entgegen arbeitet, zuletzt in Entnervung ausartet. Denn eben weil die Wirkung des Erhabenen ist, das Gemüth zu spannen und seine Schnellkraft zu vermehren, so geschieht es nur allzu leicht, daß mit dem Karakter auch die Affekte erstarken, und die sinnliche Natur an einem Kraftgewinne Theil nimmt, der nur der geistigen gelten sollte; daher findet man in den heroischen Weltaltern die erhabensten Tugenden oft mit den rohesten Lastern gepaart. Und weil die Wirkung des Schönen ist, das Gemüth aufzulösen, so geschieht es ebenso leicht, daß mit der rohen Energie der Affekte auch zuletzt der Karakter schmilzt, und die geistige Natur an einer Abspannung Theil nimmt, die nur der sinnlichen gelten sollte; daher findet man in den verfeinerten Weltaltern das zarteste Gefühl für Harmonie, Schönheit und Ordnung nicht selten mit der schändlichsten Entwürdigung des Karakters gepaart. 

Für den Menschen aus der Hand der Natur ist also nicht sowohl das Erhabene als das Schöne Bedürfniß; denn von Größe und Kraft ist er längst gerührt, ehe er für die Reize der Schönheit anfängt, empfindlich zu werden. Für den Menschen aus der Hand der Kunst ist hingegen das Erhabene Bedürfniß, denn nur allzugerne verscherzt er im Stand der Verfeinerung eine Kraft, die er aus dem Stand der Wildheit herüberbrachte. 

Doch diese Unterscheidung, Gnädigster Prinz, die mir auf Vernunft und Erfahrung gegründet scheint, wird, wie ich glaube, die Mißhelligkeit gehoben, die man in den Urtheilen der Menschen über den Werth der ästhetischen Kultur und ihren Zusammenhang mit der sittlichen antrifft, und zugleich wird dadurch der Gesichtspunkt eröffnet, aus welchem das Verhältniß des Geschmacks und der Künste zu der Menschheit im Ganzen gewürdigt werden muß. Ich habe also die doppelte Behauptung zu rechtfertigen: erstlich, daß es das Schöne sey, was den rohen Sohn der Natur verfeinert, und den blos sensualen Menschen zu einem rationalen erziehen hilft; zweitens, daß es das Erhabene sey, was die Nachtheile der schönen Erziehung verbessert, dem verfeinerten Kunstmenschen Federkraft ertheilt und mit den Vorzügen der Verfeinerung die Tugenden der Wildheit vereinbart. 

Wenn Eure Durchl. mich jetzt eine Zeitlang vielleicht zu dogmatisch finden, so vergeben Sie es für diesmal dem Innhalt, der nicht wohl eine freyere Behandlung zuläßt, ohne an Bündigkeit, worauf es hier vorzüglich ankommt, zu verlieren. Vielleicht gelingt es mir, die schwerfälligere Form durch das Interesse des Stoffs wieder gut zu machen, und ihren reinen Wahrheitssinn desto eher zu befriedigen, je weniger ich Ihre Einbildungskraft zu bestechen suche.

Die Schönheit, habe ich gesagt, hilft die Anlage zur Rationalität in dem sensualen Menschen entwickeln. Der Mensch nemlich ist seiner doppelten Bestimmung gemäß mit einer doppelten Anlage ausgestattet. Die Natur bestimmt ihn, zu empfinden und unmittelbar aus Empfindung zu handeln. Die Vernunft bestimmt ihn, zu denken und unmittelbar aus reinem Denken zu handeln. 

In der Natur, (darunter verstehe ich den Kausal- und Final-Zusammenhang der Dinge) soll der Mensch sich als eine Kraft beweisen, und der Grund gewisser Wirkung seyn. Das ist, überhaupt gesprochen, seine Naturbestimmung. Der Zweck der Natur mit ihm ist also nicht er selbst, sondern seine Wirkungen. Seinen Naturzweck erfüllt er vollkommen schon durch den Innhalt oder das Materiale seines Handelns, wie es auch um den Bestimmungsgrund oder das Formale dieses Handelns stehen möge. Weil es für den Zusammenhang der Dinge nothwendig ist, daß etwas bestimmtes durch ihn geschehe, wie dieses geschehe aber für den Naturzweck vollkommen gleichgültig ist, so hat die Natur ihre Zwecke mit ihm dadurch gesichert, daß sie ihm durch Empfindungen vorschrieb, was er wirken soll, und ihn also seine physische Bestimmung auch blos physisch und als bloße Naturkraft erfüllen läßt. 

Alle Naturkräfte nemlich sind leidende Kräfte; sie wirken blos, je nachdem auf sie gewirkt wird, und der Mensch ist also da, wo er unmittelbar aus Empfindung handelt, und was dieses Handeln betrifft, blos ein leidendes Glied in der Verkettung der Dinge. Die Natur treibt die Masse durch die Gravitation, das Organ durch die Vegetation, das vernunftlose und vernünftige Thier durch Begehrungskraft und Empfindung.

Dies gilt ohne Unterschied von jeder Thätigkeit des Menschen, die sich auf ein vorhergegangenes Bedürfniß bezieht. Er erfüllt in allen solchen Fällen blos einen physischen Zweck und erfüllt ihn blos als eine physische Kraft, wie hyperphysisch auch dasjenige seyn möge, was dieses Bedürfniß in ihm entstehen ließ. 

Selbst die sogenannten moralischen Empfindungen, welche aus Gedanken entspringen und in dem vernünftigen Theil unsers Wesens gegründet sind, sind davon nicht ausgeschlossen. Als Empfindungen sind sie blos Affektionen der leidenden Kraft, und bloße Mittel der Natur, wodurch dieselbe gewisse physische Zwecke, wie z. B. Aufmunterung zur Thätigkeit, gesellschaftliche Verbindungen, gegenseitige Hülfleistung und dergl. befördert. Wo wir unmittelbar aus diesen Empfindungen agieren, da handelt eigentlich die Natur, und nicht wir als Personen. Und weil die Natur selbst von der Tugend nichts als ihre physischen Folgen braucht, so wird sie gleich gut bedient, wenn diese physischen Folgen auch durch etwas anderes als Tugend herbeygeführt werden. Auch kann die Natur, da ihre Zwecke pressieren, nicht auf unsere moralische Ausbildung warten (weil sie da lange warten müßte!) daher sie den sicherern und kürzeren Weg erwählt, und dasjenige selbst, d. i. durch unsere leidende Kraft, verrichtet, was sie von uns, nemlich unsrer thätigen Kraft, nicht mit Sicherheit erwarten kann. Mit andern Worten: die Natur regiert uns ebenso durch moralische Empfindungen, als durch sinnliche Gefühle, und hat das Menschengeschlecht schon Jahrtausende dadurch regiert. Sie kann es, weil ihr nur an dem Effekt, nicht an dem moralischen Werth unsers Handels liegt; sie muß es, weil sie ihre Zwecke nicht so lange suspendieren kann, bis wir sie aus Grundsatz erfüllen helfen. 

Indessen, Gnädigster Prinz, möchte ich nicht gerne so verstanden seyn, als ob ich von allem demjenigen geringschätzig dächte, was der Mensch nicht aus Grundsatz vollbringt, oder gar die moralische Empfindsamkeit aus dem menschlichen Herzen verbannt wünschte. Von dieser Paradoxie bin ich vielmehr so weit entfernt, daß ich diese schöne Fähigkeit des Gemüths, durch Ideen von Ordnung, Harmonie und Vollkommenheit affiziert zu werden, als eine herrliche Anstalt der Natur bewundre, und den Menschen, dem sie mangelt, niemals liebgewinnen kann. Die moralische Empfindsamkeit ist mir die wirksamste Feder in dem großen Uhrwerk der Menschheit; aber – muß ich ausdrücklich hinzusetzen – aber auch nur außen in dem Uhrwerk, wo die Naturnothwendigkeit waltet, nicht in unserm innern Selbst, wo die Freiheit regiert. Ich kann nicht umhin, den Menschen, der sie besitzt, als ein edleres Naturwesen zu betrachten, aber seiner Person kann ich kein Verdienst daraus machen. Um ihn als Vernunftwesen hoch zu achten, muß ich mich vorher überzeugt haben, daß er ebenso uneigennützig, standhaft und gerecht handeln würde, wenn diese Tugenden auch nicht den Reiz für ihn hätten, den sie wirklich haben, und ihre Ausübung ihm ebenso viel Ueberwindung kostete, als sie ihm jetzt vergnügen macht. 

Man hat also Unrecht, auf die verschiedene Art der Empfindungen, welche bei menschlichen Handlungen im Spiele sind, einen moralischen Unterschied dieser Handlungen zu gründen. Es ist niemals die, ihr zum Grund liegende Empfindungsweise, was eine Handlung als sittlich und nicht sittlich karakterisiert; denn was unmittelbar aus Empfindung geschieht, geschieht schlechterdings und überall physisch, und wird durch die Natur vorgeschrieben. Der innere Sinn oder das Vermögen, sich selbst durch Gedanken zu affizieren, spezifiziert den Menschen blos als eine verständige Thierart und als ein edleres Sinnenwesen; aber nur seine Rationalität oder das Vermögen, nach reinem Denken zu handeln, kann ihn generisch von dem Thiere unterschieden, Es mag also etwas noch so geistiges seyn, was ihn in Empfindung bestimmt wird, so bestimmt er sich blos als ein verständiges Thier: denn Thier heißt alles, was so handelt, weil es so empfindet. 

Ich fahre in meiner Untersuchung fort, und bitte nochmals um Ihre Nachsicht, Gnädigster Prinz, wegen der dogmatischen Wendung, die sie genommen hat. 

So wie die physische Weltordnung blos das Materiale meines Wirkens beabsichtig, ohne nach der Form oder dem Bestimmungsgrund desselben zu fragen, so nimmt die moralische Weltordnung blos auf das letztere Rücksicht und abstrahiert ganz und gar von dem Inhalt meines Handelns, um sich blos an die Form zu halten. Meine Naturbestimmung war, mich im Zusammenhang der Kräfte als eine Kraft zu beweisen, und der Grund gewisser Wirkungen zu seyn. Meine Vernunftbestimmung ist, mich als eine unabhängige und absolute Kraft zu beweisen, deren Wirkung auf kein Leiden gegründet, sondern durchaus frey aus ihr selbst hervorgegangen und reine Selbstbestimmung ist. 

Hier also, in der moralischen Weltordnung, kommt nicht mein Effekt und mein Produkt, sondern der produzierende Grund in mir, meine Gesinnung, in Betrachtung. Meine Vernunftbestimmung personifiziert mich, da die Natur mich blos als eine Sache, und als ihr Mittel behandelt. Der Naturzweck mit mir geht durch mich hindurch und über mich hinaus; der Zweck der Vernunft mit mir steht bey meiner Persönlichkeit stille, und macht mich zu seinem Mittelpunkt. 

Da es nun meine Vernunftbestimmung als nothwendig mit sich bringt, daß ich mich unabhängig von allen äußern Bedingungen, aus mir selbst bestimme, dabey aber für diese meine Bestimmung völlig gleichgültig ist, wie meine Handlung in der Sinnenwelt ausschlage, so kann mir die Natur meine Thätigkeit nicht mehr durch Empfindungen vorschreiben, sondern diese muß unabhängig und frey aus reinen Erkenntnissen fließen.

Nur wo ich aus reiner Erkenntniß handle, beweise ich eine absolut freye Thätigkeit. Um empfinden zu können, muß ich etwas außer mir setzen, wodurch mein Zustand bestimmt wird, ich bedarf. Nicht so, wenn ich denke oder erkenne; denn ob ich gleich meine höchste Denkfähigkeit nie anders, als an einem Stoff, der zuletzt immer von außen kommen muß, äußern kann, so entspringt sie doch nicht aus dem Stoffe, sondern wird nur an demselben sichtbar. Der Gedanke ist eine Operation, die ich mit einem Gedankenstoff vornehme, die Empfindung ist eine Passion, die ich von einem Stoffe erleide. Bestimmt mich also eine Empfindung zum Handeln, so liegt der Grund meiner Thätigkeit außer mir, und ich empfange das Gesetz. Bestimmt mich hingegen eine Erkenntniß zum handeln, so liegt der Grund meiner Thätigkeit in mir, und ich gebe mir das Gesetz. Die Sensualität ist also ein Zustand der Abhängigkeit, die Rationalität ist ein Zustand der Freyheit. 

Und von dieser Dienstbarkeit der Natur soll ich mich aufrichten zur Würde der Geister, zur Menschheit, zur Gottheit. Meine sittliche Bestimmung verlangt schlechterdings, daß ich von aller Empfindung zu abstrahieren vermögend sey, sobald die Vernunft, als höchste Gesetzgeberin, es gebietet. Aber ich bin weit früher ein Sinnenwesen, als ich mich als eine Intelligenz kennen lerne, und obgleich die Vernunft in mir moralisch das Vorrecht hat, so hat die Natur in mir doch physisch den Vorsprung. Ehe der selbstthätige Geist seine Kräfte prüft, hat der Trieb seine Herrschaft bevestigt. Und doch soll ich, sobald die moralische Erkenntniß erwacht, meine lange Gewohnheit verlassen, und eine Kraft, die ich nie geübt, derjenigen entgegensetzen, die bisher allein mir thätig war. Wie werde ich nun von dieser sinnlichen Abhängigkeit zu der moralischen Freiheit einen Uebergang finden? 

Könnte mir in diesem geistigen Akt auch nur im geringsten die Fertigkeit etwas helfen, die ich bey meinem sinnlichen Wirken erlangte, könnte ich von der Natur einen Beystand dabey erwarten, so wäre der Uebergang nicht schwer. Aber eben darin besteht ja die rationale Freiheit des Handelns, daß aller Natureinfluß aufhöre, und von allem, was sinnlich ist, ganz und gar abstrahiert werde. Der Materie darf schlechterdings nicht gestattet werden, sich in die reine Gesetzgebung der Vernunft einzumischen, wenn der Begriff einer reinen Gesetzgebung nicht aufgehoben werden soll; also bleibt nichts anders übrig, um einen Uebergang möglich zu machen, als daß die Selbstthätigkeit der Vernunft an den Geschäften der Sinnlichkeit Theil nehme. Wenn sich das sittliche Verfahren des Gemüths nicht sensualisieren läßt, so muß sich das sinnliche Verfahren rationalisieren lassen. Mit einem Wort: Wenn die Materie zu dem Geist nicht hinaufsteigen kann und darf, so bleibt nichts übrig, als daß der Geist zur Materie heruntersteige. 

Es ist nemlich schlechterdings nothwendig, daß der Mensch da, wo er sich als Intelligenz zu legitimieren hat, reine Selbst, Thätigkeit beweise; aber es ist nicht schlechterdings nothwendig daß er da, wo er als Sinnenwesen handelt, nur als ein solches handle und sich blos leidend verhalte. Im Gegentheil, so sehr es den Menschen schändet, dasjenige durch die leidende Kraft zu verrichten, was er durch die thätige vollbracht haben sollte, so sehr ehrt und erhebt es ihn, dasjenige mit Zuziehung der thätigen Kraft zu thun, was gemeine Seelen nur durch die leidende verrichten. Meine Achtung gegen einen Menschen sinkt, sobald ich ihn da, wo die Pflicht ganz ausdrücklich spricht, materielle Antriebe (und wenn es selbst Religionsgründe wären) zu Hülfe nehmen sehe. Meine Achtung gegen denjenigen steigt, der da Geschmack beweist, wo ein andrer blos ein Bedürfniß befriedigt. 

Also schon im Gebiet der Empfindung muß der selbstthätige Geist in uns seine Wirksamkeit eröffnen, und eine Kraft, welche sich nachher im moralischen Gebiete in vollkommener Reinigkeit äußern soll, schon bey sinnlichen Verrichtungen anspielen und in Uebung setzen. Wir können also drey verschiedene Epochen oder Grade, wenn man will, bemerken, die der Mensch zu durchwandern hat, ehe er das ist, wozu Natur und Vernunft ihn bestimmten. 

Auf der ersten Stufe ist er nichts als eine leidende Kraft. Er empfindet hier blos, was die Natur außer ihm ihn empfinden lassen will, und bestimmt sich blos, je nachdem er empfindet. Er empfindet Lust, weil ihm von außen Stoff gegeben wird, und Unlust blos weil ihm nicht gegeben, oder weil ihm genommen wird. Entweder stürzt er auf die Gegenstände stürzen feindlich auf ihn, und er stößt sie von sich in der Verabscheuung. In dieser drückenden Dependenz von Naturbedingungen vegetiert der Mensch, bis, auf der zweyten Stufe, die Betrachtung ihn frey macht. 

Das Wohlgefallen der Betrachtung ist das erste liberale Verhältniß des Menschen gegen die ihn umgebende Natur. Wenn das Bedürfniß seinen Gegenstand unmittelbar ergreift, so rückt die Betrachtung den ihrigen in die Ferne. Die Begierde zerstört ihren Gegenstand, die Betrachtung berührt ihn nicht. Die Naturkräfte, welche vorher drückend und beängstigend auf den Sclaven der Sinnlichkeit eindrangen, weichen bey der freyen Kontemplation zurück, und es wird Raum zwischen dem Menschen und den Erscheinungen. Wenn sich der grobe Schwelger am Anblick einer weiblichen Schönheit weidet, so zielt er dabey immer (wenn auch nicht wirklich, doch gewiß in der Einbildung) nach Besitz, nach unmittelbarem Genuß. Wenn sich der Mann von Geschmack an diesem Anblick ergötzt, so genügt ihm an der bloßen Betrachtung. Von dem Objekte selbst will er nichts, und mit der bloßen Vorstellung zufrieden, bleibt er gleichgültig gegen die Existenz desselben; wenigstens hat sein Vergnügen mit der letztern nichts zu thun. 

Ich verhalte mich zwar auch bey Empfindungen der Schönheit leidend, wie bey ganz materiellen Vergnügungen, in so fern ich den Eindruck der einen wie der andern von außen empfange, und dieser Eindruck mich in den Zustand der Lust versetzt. Aber die Lust an diesem Eindruck empfange ich, bei dem schönen Gegenstande, nicht von außen, es ist nicht der materielle Eindruck auf mein Empfindungsvermögen, sondern eine dazwischen tretende thätige Operation meiner Seele, nemlich die Reflexion darüber, was mich in den Zustand der Lust versetzt. Das materielle Vergnügen entspringt unmittelbar aus dem Stoff, den ich empfange, das ästhetische Wohlgefallen entspringt aus der Form, die ich einem empfangenen Stoff ertheile. Ich ergötze mich an dem Angenehmen, weil es mir Gelegenheit giebt, etwas zu erleiden, ich ergötze mich an dem Schönen, weil es mir Gelegenheit giebt, etwas zu thun. 

Was Wohlgefallen der freyen Betrachtung übt mich also, Gegenstände nicht mehr blos auf meinen physischen Zustand und auf meine leidende Kraft, sondern unmittelbar auf meine Vernunft zu beziehen, und mein leidendes Vermögen mittelbar durch das thätige zu affizieren. Ich verhalte mich zwar leidend, in so fern ich empfinde, aber ich empfinde nur, weil ich thätig war. Ich empfange zwar, aber ich empfange nicht von dem Naturmechanismus, sondern von der denkenden Kraft. 

Ich habe also bey dem Wohlgefallen der freyen Betrachtung meine Rationalität eröffnet, ohne meine Sensualität abgelegt zu haben. Ich habe die wichtige Erfahrung gemacht, daß ich mehr bin, und mehr in mir habe, als eine blos leidende Kraft, und diese höhere Kraft habe ich zu üben angefangen. Anfangs war ich nichts als ein Instrument, auf dem die physische Nothwendigkeit spielte. Weil auf mich gewirkt wurde, empfand ich; weil ich empfand, so begehrte ich. Hier also waren Ursache und Wirkung physisch. Jetzt auf der zweyten Stufe mische ich mich selbst, als ein freyes Principium und als Person, in meinen Zustand. Ich erleide zwar noch, denn ich empfinde, aber ich erleide, weil ich handelte. Hier ist also zwar die Wirkung (die Empfindung), aber nicht die Ursache dieser Empfindung physisch. Es ist kein Stoff von außen, sondern ein Stoff von innen, eine Vernunftidee, was mein Gefühlvermögen affiziert. Noch eine Stufe weiter, und ich handle, weil ich handelte, d. i. ich will, weil ich erkannte. Ich erhebe Begriffe zu Ideen und Ideen zu praktischen Maximen. Hier auf der dritten Stufe lasse ich die Sinnlichkeit ganz hinter mir zurück, und habe mich zu der Freiheit reiner Geister erhoben. 

(Der Gemeinspruch, daß die Extreme sich berühren, hat auch hier seine volle Gültigkeit, denn sobald wir von ihrem Innhalt abstrahieren, folgen beide entgegengesetzte Gemüthsverfassungen, der Zustand der höchsten Abhängigkeit und der Zustand der höchsten Freiheit völlig derselben Regel. Der ganz sensuelle und der ganz rationelle Mensch haben mit einander gemein, daß beide sich unmittelbar, jener aus Empfindung, dieser aus reiner Erkenntniß bestimmen. Dieselbe Regidität, womit die Natur dem Sclaven der Sinne gebietet, übt das Sittengesetz gegen den moralischen Willen aus; dieselbe Laxität, welche sich der sinnliche Mensch gegen die Gesetze der Geister erlaubt, gebietet die Vernunft dem sittlichen Menschen gegen die Gesetze der Natur. Recht oder Unrecht – ich muß genießen, sagt die Leidenschaft. „Fiat justitia et pereat mundus,“ sagt die Pflicht.) 

Durch das Empfindungsvermögen des Schönen wird also ein Band der Vereinigung zwischen der sinnlichen und geistigen Natur des Menschen geflochten, und das Gemüth von dem Zustand des bloßen Leidens zu der unbedingten Selbstthätigkeit der Vernunft vorbereitet. Die Freiheit der Geister wird bey dem Schönen in die Sinnenwelt eingeführt, und die reine dämonische Flamme läßt hier (wenn Sie mir die Metapher erlauben wollen) auf dem Spiegel der Materie, wie der Tag auf den Morgenwolken, ihre ätherischen Farben spielen. 

Ich erinnere mich hier einer Stelle aus meinem Gedicht, die Künstler, die (ich weiß nicht mehr, warum) einer andern aufgeopfert worden ist. Sie mag hier als eine Ruine stehen bleiben: 

Wie mit Glanz sich die Gewälke mahlen, 
Und des Bergs besonnter Gipfel brennt, 
Eh sie selbst, die Königin der Strahlen, 
Leuchtend aufzieht an dem Firmament; 
Tanzt der Schönheit leicht geschürzte Hore 
Der Erkenntniß goldnem Tag voran, 
Und die jüngste aus dem Sternenchore 
Oeffnet sie des Lichtes Bahn. 

F. Schiller.


Bemerkungen

1 Zu S. 368. Z. 10. Der Einschluß bei Michelsen Nr. III. Geschrieben ist der Einschluß natürlich vor diesem Brief, sollte aber erst nach ihm gelesen werden. Daher habe ich ihn als Anhang zu Nr. 692. gebracht. Zu Z. 12. Des Herzogs Brief ist mir nicht bekannt.
Zu S. 369. Z. 25. Schillers waren, wie es scheint, am 5. August, in Nürnberg mit Baggesens zusammengetroffen. (Baggesen an Reinhold vom 20. August 1793.) Vorher aber im Juli war Baggesen in Jena gewesen, und hier hatte Baggesen begeistert den Prinzen Friedrich Christian geschildert. Vgl. Nr. 670.)
Zu S. 377. Z. 8. vgl. Ovid. Art. amat. lib. III. 543. Zu Z. 10. Vgl. Ovid. Pont. II. 9, 47.
Zu S. 399. Z. 11. Die ganze Stelle von hier ab, bis S. 409. Z. 18. rückte Schiller unter der Überschrift: Über den moralischen Nutzen aesthetischer Sitten, in das dritte Stück der Horen 1796 ein.